Wir als Christen sind schuldig

Edvard Munch, 1893, The Scream
Am 18. Oktober 1945 war in
Stuttgart die erste ordentliche Sitzung des Rates der Evangelischen Kirche in
Deutschland (EKD) angesetzt, zu der auch eine ökumenische Delegation unter der
Leitug von Willem A. Visser’t Hooft angesagt war. In Vorbereitung auf diese
Sitzung fand am Mittwoch, 17. Oktober um 19.30 Uhr unter Leitung von
Landesbischof Wurm eine Abendandacht in
der Stuttgarter Markuskirche statt. Als Martin Niemöller gegen 18.30 Uhr in Stuttgart eintraf, teilte
ihm Stadtdekan Lempp mit, dass er in der Markuskirche sprechen solle. Seine
Frau Else suchte daraufhin für ihn als Predigttext Jeremia 14,7-11 aus, und
Niemöller hielt seine Predigt weitgehend aus dem Stegreif. Gegenüber dem tags
darauf verfassten sogenannten „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ sind Niemöllers
Worte in Sachen Schuld der Christen radikal gefasst:
Predigt über Jeremia 14,7-11 (1945)
Von Martin Niemöller
Ach HERR, unsre Missetaten
haben’s ja verdient; aber hilf doch um deines Namens willen! denn unser
Ungehorsam ist groß; damit wir wider dich gesündigt haben. Du bist der Trost
Israels und sein Nothelfer; warum stellst du dich, als wärest du ein Gast im
Lande und ein Fremder, der nur über Nacht darin bleibt? Warum stellst du dich
wie ein Held, der verzagt ist, und wie ein Riese, der nicht helfen kann? Du
bist ja doch unter uns, HERR, und wir heißen nach deinem Namen; verlaß uns
nicht! So spricht der HERR von diesem Volk: Sie laufen gern hin und wieder und
bleiben nicht gern daheim; darum will sie der HERR nicht, sondern er denkt nun
an ihre Missetat und will ihre Sünden heimsuchen. Und der HERR sprach zu mir:
Du sollst nicht für dies Volk um Gnade bitten. (Jer 14,7-11 Luther 1912)
Liebe Gemeinde, liebe Brüder und
Schwestern in dem Herrn Jesus Christus!
Wenn ein Mensch heutzutage, so
wie ich, nach langen Jahren zum erstenmal wieder einen Schritt hineintut in das
Leben unseres Volkes und unserer Kirche, dann kann ihm wohl gar nicht anders
ums Herz sein wie dem Propheten, dessen Worte wir eben vernommen haben. Dann
steht man da und schüttelt den Kopf über dem Trümmerbild unserer deutschen
Städte, dann stößt man hier und da auf die riesigen Lücken, die der Krieg
geschlagen hat in dem Kreis derer, die uns bekannt und lieb waren, dann [146]
seufzt einem das Herz unter der Not unter der ein ganzes Volk heute seufzt und
stöhnt und man fragt sich und findet keine Antwort: Was soll und mag aus dem
allem werden.
Und diese Sorge und dieser Druck des Herzens, die werden
eigentlich nur noch schlimmer, wenn man dann am Sonntag in die Kirche geht und
sich wieder mit der Gemeinde wie einst unter Gottes Wort beugt und stellt. Denn
da muß man sich fragen, was ist denn nun eigentlich in all diesen 8, 10, 12
Jahren bei uns anders geworden? Ist nicht alles noch genauso geblieben wie es
vorher war? Gewiß, da ist die Not. Aber sind die Menschen anders? Gewöhnen wir
Menschen uns nicht an die Not ebensogut wie wir uns vorher an die guten Tage
gewöhnt haben und lassen nun die Dinge laufen, weil man nicht anders kann und
mag?
Und gewöhnt man sich nicht an diese zerstörten Städte und die
stilliegenden Fabriken und dieses Hin- und Herlaufen ohne Sinn und Ziel so wie
wir uns früher gewöhnt haben an unser eifriges, fleißiges, schaffendes Leben?
Und was ist mit unserer inneren Einstellung zu all diesen Dingen? Haben wir aus
diesen Zeiten als Volk und Kirche wirklich etwas gelernt? Haben wir gemerkt,
daß es Gott gewesen ist, der uns diesen ganzen Weg geführt hat? Haben wir einen
Eindruck davon und fühlen wir eine Verantwortung deswegen, daß und weil Gott
uns in diesen 12 Jahren in ganz besonderer Weise heimgesucht hat wie der
biblische Ausdruck lautet.
Als ich Ende Juni nach Deutschland und in die
Freiheit zurückkehrte, da hörte man überall die Menschen schimpfen auf die
bösen Nazis, die all dies Elend über uns gebracht hätten, und wenn man dann
hinhorchte, wie sich dieser Schwerpunkt von Klagen und Kritisieren allmählich
verschoben hat, dann war das Kritisieren nicht mehr in 1. Linie auf die Nazis
gerichtet, mit denen man vorher nichts zu tun haben wollte, dann waren es je
nachdem die Engländer, Franzosen, Amerikaner. Wir fanden immer irgend etwas,
worüber wir uns aufregen konnten und jemand, den wir verantwortlich machen zu
können glaubten und haben ja doch wohl immer und immer wieder dabei übersehen,
daß Gott in dieser Zeit bei uns an die Türe geklopft hat und müssen doch nun
endlich merken, daß Gott von uns heute etwas will, daß Er uns zum Nachdenken
bringen will, nämlich zum Nachdenken darüber, wie es mit unserer Zufriedenheit
und Stolz sei, daß er uns von ihm frei machen will.
Wer ist schuld an unserem
Elend?
Die [147] Nazis, die Militaristen, die Engländer, die Amerikaner? Sie mögen
es selbst sagen. Aber eins ist ganz gewiß, wenn wir mit uns ins Gericht gehen
und als Christengemeinde, als Kirche uns unter Gottes Wort beugen, dann sollen
wir unsere Schuld sehen und dann sollen wir etwas davon merken, daß unser Volk
ja doch wohl niemals diesen Weg bis zu diesem Ende hätte gehen können, wenn in
seiner Mitte eine Christenheit gelebt hätte, die ihre Pflicht erfüllt hätte.
Unsere Kirche, wenn auch immer wieder einzelne Zeugen dagewesen sind, die mutig
aufgetreten sind, aber unsere Kirche als Ganzes, unsere Gemeinde als ein Stück
des Lebens unseres deutschen Volkes, haben die wirklich getan, was sie zu tun
schuldig waren, oder haben sie just in irgendeinem kleinen gezirkelten Kreis
des Tages ihres Glaubens gelebt und unser Volk gehen lassen, wohin es wollte
und mochte. Wäre vielleicht nicht etwas ganz anderes geschehen, wenn in den Jahren
33 und nachher noch eine Gemeinde dagewesen wäre, die den Willen Gottes ohne
Furcht bezeugt hätte, die gesagt hätte, daß Unrecht Unrecht ist, auch wenn es
von oben befohlen wird, Sünde Sünde bleibt, auch wenn die Obrigkeit diese Sünde
tut. So haben wir heute wenig Anlaß, uns auf ein hohes Roß zu setzen, wo die
Kirche da ist, das einzige, was geblieben ist aus diesem ganzen Zusammenbruch.
Ich bin überzeugt, auch mit uns kann Gott der Herr, kein Neues beginnen,
solange wir als Christen, als Gemeinde und als Kirche nicht eingesehen haben,
wie sehr wir schuldig sind, schuldig an dem Weg unseres Volkes, weil wir
geschwiegen haben, wo wir hätten reden müssen, weil wir leise geflüstert
haben, wo wir laut hätten schreien müssen, weil wir uns in den Winkel
zurückgezogen haben, wo wir hätten auf den Markt treten müssen und das Wort Gottes
hätten sagen müssen …
Wenn etwas Neues werden soll …
dann gelebt und
verkündigt von einer Christenheit, die um ihre Sünde weiß, von einer Gemeinde,
die an ihre Brust schlägt und weiß, es darf nie mehr so werden wie es in den letzten
12 Jahren gegangen ist, wir müssen den Mut haben, nicht bloß im Raum der
Kirche, wir müssen den Mut haben, inmitten der Welt, inmitten unseres Volkes
Christen zu sein und das Wort Gottes zu bezeugen und zu leben. Wir haben eine
Schuld und ich möchte meinen, unsere Schuld als Christen, liebe Gemeinde, ist
viel größer als die Schuld der Nazis, des deutschen Volkes und der
Militaristen. [148] Wir Christen haben ja um den rechten Weg gewußt. Die andern
haben sich ihre eigenen Wege ausgedacht. Wir wußten, es gibt einen, den zeigt
Gott in seinen heiligen Geboten, in dem Leben und Sterben unseres Herrn und
Heilandes Jesu Christi. Das ist der rechte Weg, den haben wir zu bezeugen, den
haben wir zu leben und haben es unserem Volk vorzuhalten. O, unsere große
Schuld!
Wenn wir nun neu anfangen wollen,
Gott möge es uns schenken, wissen wir es, wir Christen, wir sind schuldig an
Millionen und Abermillionen von Umgebrachten, Hingemordeten, Zerbrochenen, ins
Elend und in die Fremde gejagten, armen Menschenkindern, Brüdern und
Schwestern in allen Ländern Europas und über Europa hinaus. Hätten wir unsere
Pflicht getan, wären nicht Millionen ermordet, verhungert, Geiseln in Holland
erschossen … alles, was uns über die Schandtaten gezeigt wird von Buchenwald
und wie die Stätten des Schreckens alle heißen mögen. Diese Dinge wären nicht
geschehen – unsere Schuld!
Und was sollen wir tun? Wie muß
dieser neue Anfang aussehen, wenn wir wissen, daß auf uns die Schuld für alles
dies liegt und wir eine riesige Verantwortung tragen? Jeder Mensch hofft,
Amerika muß Getreide schicken, England muß helfen, die Reichen den Armen, die
Feinde sollen keine Vergeltung üben. Wem sagen wir das? Sagen wir das Menschen,
die das Wort Gottes kennen, oder sagen wir es um uns selber zu rechtfertigen?
Was wir als Christen heute zu tun haben, ist wie immer, daß wir inmitten dieser
Welt das Evangelium von Jesus Christus zu verkündigen haben, bloß daß wir es so
verkündigen sollen und müssen, daß es heute in der Welt ihrer Kirche gehört und
verstanden wird. Wir haben einen kümmerlichen Versuch gemacht 1933 und was
daraus folgte, den Menschen zu zeigen, was Gottes Wort ist. Wir müssen heute
einen besseren Versuch machen, das wieder zu tun, bloß daß es jetzt nicht gegen
Rosenberg, gegen den Mythus des 20. Jahrhunderts geht. Er ist so tot, ihn kann
keiner töter machen. Heute wartet die Welt darauf, ein Zeugnis zu empfangen, ob
die Vergebung, die Gott uns Menschen in Christus Jesus gebracht hat, eine
kleine ist, ob die Christenheit Vergebung leben kann. Die Welt wartet darauf,
ob die Liebe, von der das Neue Testament redet, die des Gesetzes Erfüllung ist,
die Liebe, die nicht fragt, wer derjenige ist, dem geholfen werden [149] muß,
sondern nur fragt, wo bist du, Bruder, dem ich helfen soll. Daß diese Liebe
nicht nur mit Worten gepredigt, sondern in der Tat von der Christenheit gelebt
wird. Welche Christenheit wollte mehr Anlaß haben, damit anzufangen als wir,
die Christenheit im deutschen Vaterland, die wir unter dieser Last stehen. Sie
werden wissen, wie es in Berlin aussieht (ich konnte Bischof Dibelius nicht
hören, da ich in der Markuskirche zu sprechen hatte). Sie werden wissen, daß
Millionen von Menschen so oder so in diesem Winter verhungern werden. Und das
Furchtbare dabei ist, wir können den Amerikanern nicht sagen: Hier verhungern
Deutsche – östlich der Elbe. Antwort: Ihr habt alle noch viel mehr zu essen als
wir in Frankreich.
Liebe Brüder und Schwestern! Das
Warten auf auswärtige Hilfe ist es nicht. Was die Kirche, die Gemeinde, die
Christen unserem Volk schulden ist, daß wir es leben und zeigen, wir sind
wirklich solidarisch mit euch so wie der Herr Jesus Christus mit uns armen
Sündern am Kreuz, wo er starb, solidarisch gewesen ist. Jetzt wollen wir diese
Solidarität leben. Wir leben noch in unserem Paradies, auch wenn wir nur haben,
was auf die Lebensmittelmarken zu haben ist. Wir leben noch im Paradies zu dem,
was anderswo geschieht. Wir haben das Recht nicht als Christen nun unsere
Herzen verhärten zu lassen und uns auf den Standpunkt zu stellen: Ihr müßt
helfen. Nein, wir müssen denen helfen, denen es noch viel schlimmer
geht als uns. Wir müssen Vergebung üben. Es ziemt sich nicht, daß ein Christ
auf den Nazi schimpft. Er muß ihn sehen mit den Augen, dem Blick, der weiß: Du
hättest auch einen anderen Weg gehen können, wenn wir unsere Pflicht getan
hätten, du bist angewiesen auf meine Hilfe und Liebe.
Laßt uns, Liebe predigen
und Liebe bezeugen, den Menschen helfen, wieder zurechtzukommen, zunächst
einmal wieder an die Liebe Gottes in Jesus Christus und seiner Gemeinde
glauben, und dann an Jesus Christus zu glauben als ihren persönlichen Herrn und
Heiland. Das dürfte das Zeugnis sein, das uns heute abgefordert wird. Das ist
die einzige Hoffnung, die es heute für die Zukunft der ganzen Völker Europas
gibt. Man kann sagen, alles muß auf dem Christentum aufgebaut werden, recht
verstanden ja, aber nicht so, daß überall christliche Weltanschauung gepredigt
wird. Das wird sowenig helfen wie einst, wenn die Menschen nicht das Zeugnis
der Gemeinde hören, [150] nicht bloß der Pastoren, sondern merken, daß die
Gemeinde lebendig ist, daß die Gemeinde lebt von der Liebe Gottes, die sie aus
Christus Jesus empfängt. Die Verkündigung des Evangeliums hängt von jedem
einzelnen ab, so daß sich an jedem einzelnen Menschenschicksal entscheidet, was
aus unserem deutschen Volk, den ganzen Völkern Europas vielleicht noch einmal
werden darf. Das hört man sich nicht an einem Abend, nicht am Sonntagmorgen an.
Darum sollten wir und dürfen wir täglich im Gebet mit unserem Gott ringen, daß
er uns das steinerne Herz wegnehme und das fleischerne Herz gebe, in dem der
Herr Christus seine Liebe wirken lassen kann, daß dieses Herz den ganzen Leib
der Kirche in Bewegung bringe und die Leute unsere guten Werke sehen und den
Vater im Himmel preisen. Amen.
Gehalten am 17. Oktober 1945
in der Markuskirche in Stuttgart am Vorabend der ersten ordentlichen Sitzung
des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).
Quelle: Gerhard Besier/Gerhard
Sauter, Wie Christen ihre Schuld bekennen. Die Stuttgarter Schulderklärung
1945, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1985, S. 145-150.
Quelle: https://jochenteuffel.com/2019/08/02/unsere-schuld-als-christen-ist-viel-groesser-als-die-schuld-der-nazis-des-deutschen-volkes-und-der-militaristen-martin-niemoellers-predigt-zum-stuttgarter-schuldbekenntnis-1945/