Aristoteles philosophische Schriften zu lesen heisst, an den Grenzen unseres Wissens vorzustossen – denn auch heute noch, 2‘338 Jahre nach seinem Tod, stehen wir an derselben Grenze, an die er uns geführt hat, z.B. in Fragen der Erkenntnistheorie.
Wir denken zwar, wir hätten jene Grenze überschritten und unser Wissen erweitert: aber das ist nur Wunschdenken und Illusion. Wir stehen noch auf dieser Seite der Grenze, dort wo Aristoteles schon gestanden ist und werden sie nur überschreiten, wenn wir sein Werk weniger als Antwort auf Fragen sondern vielmehr als Anregung zum Nachdenken begreifen werden.
Immanuel Kant hat uns in seiner "Kritik der reinen Vernunft" den Weg dieser Grenzüberschreitung gewiesen, aber wer versteht schon seine Kernbotschaft?
Beispiel
Aus "Über die Seele" (De Anima, Περί ψυχής), ein Werk in dem Aristoteles "unter anderem Fragen der Erkenntnistheorie, der Philosophie des Geistes, der philosophischen Psychologie und der Handlungstheorie" (https://de.wikipedia.org/wiki/De_anima) anspricht:- ὁ μὲν γὰρ λόγος ὅδε τοῦ πράγματος, ἀνάγκη δ' εἶναι τοῦτον ἐν ὕλῃ τοιᾳδί, εἰ ἔσται· (Περί ψυχής, Buch A, 403b)
- Übersetzung (eigene): Denn während der Begriff dies ist für den Gegenstand, muss er in jener Materie sein, um zu sein.
- Übersetzung mit Erläuterungen: Denn während der Begriff (λόγος) dies (ὅδε, bezogen auf εἶδος = „Form“ im vorangehenden Satz) ist für den Gegenstand (τοῦ πράγματος), muss er in jener (bezogen auf „Materie“ im vorangehenden Satz) Materie (ὕλῃ) sein, um zu sein (εἰ ἔσται – um zu existieren).
Hier geht es um die Beziehung zwischen Begriff (λόγος) und Gegenstand
(πράγμα). Aristoteles verwendet dafür die Relation Form zu Materie und ein nicht näher
beschriebener, stillschweigend angenommener Mechanismus, wodurch der Begriff sich in
der Materie verwirklicht (Vergegenständlichung). Nun ist genau dieser
Mechanismus der entscheidende Punkt, um die Grenze des Wissens in dieser grundlegenden Thematik zu überschreiten! Aristoteles kümmert sich nicht
darum: aber er führt uns zu diesem Punkt der Grenze unseres Wissens und es liegt nun an uns:
- dies zu merken
- Wege zu finden um die Grenze zu überschreiten
Hi, lieber Marco, hast Du Deinen Blog UND Zeit für Musse wiedergefunden? Ich habe gerade etwas über Deinen Eintrag nachgedacht. Ich glaube, ich habe keine philosphische Vorstellung davon, was Grenzen des Wissen sein könnten. Meine eigene Grenze ist jedenfalls rasch erreicht, und was für andere dahinter liegen mag, wäre für mich nur Spekulation. Was Kant und Aristoteles gemeint oder gewusst haben, gehört für mich in diesen Bereich hinter meiner Grenze. Ihre Texte helfen mir nicht, aber vielleicht werde ich einsichtiger, wenn Du Deine Kant-Arbeit weiterführst (und kleinere Geister etwas anschaulicher machst ;-))
ReplyDeleteLieber Rolf, vielen Dank für deine Nachricht. Facebook hat mich daran erinnert, dass ich vor 4 Jahren den Geburtsort von Aristoteles im Norden Griechenlands besucht hatte, ich habe dann wieder sein Werk "De Anima" hervorgeholt und ein wenig nachgedacht ... Die Grenzen des philosophischen Wissens ergeben sich dadurch, dass wir die Grenzen der Vernunft nicht merken. Das ist wie bei einer Maschine: dein Motorrad kann über Strassen fahren, vielleicht über Waldwege, aber nicht über das Meer ... Der Unterschied liegt darin, dass die Maschine dir ihre Grenzen klar zeigt - im Wasser geht sie unter ;-) - die Vernunft hingegen überschreitet mühelos ihre Grenzen ohne es zu merken; das Problem ist, dass so das Wissen nicht erweitert wird, sondern viel nutzloses Wissen dem bestehenden hinzugefügt wird und die Grenzen des Wissens bleiben wo sie sind.
Deletehmmm .. lieber Marco, was Du da schreibst, ist bereits auf der anderen Seite der Grenzen meiner Vernunft. Ich bräuchte Beispiele dafür, wo meine Vernunft Grenzen überschreitet, damit ich verstehen könnte, worin meine Vernunft sich zeigt und was Grenzen sein könnten.
ReplyDeleteIn meiner praktischen Lebenswelt spielt ja das vernünftig sein ein eher bescheidene Rolle, gerade weil ich nicht weiss, was vernünftig wäre. Dabei spreche ich aber über mich, nicht über eine Vernunft.
Und ich weiss doch sehr viel, wovon Aristoteles keine Ahnung hatte, und das ist für mich nicht nutzloses Wissen. Ich vermute also, dass Du etwas anderes meinst?
Sorry Rolf, habe im Oktober deine Antwort aus den Augen verloren, ich ging nach Griechenland in die Ferien ... im Moment kann ich auf deine Fragen nicht eingehen, werde später darauf zurückkommen :-)
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